I

Die Gemälde der Künstlerin Charlie Stein sind nicht zuletzt der Selfie-
kultur geschuldet, der Inszenierung des Individuums in den sozialen
Netzwerken.

»To live is also to pose« (1) beschrieb Susan Sontag den Drang der
Selbstdarstellung, den Isabelle Graw als »pressure to perform oneself«
(2) mit dem Hinweis auf die Spuren all dessen entlarvte, was dabei
eben nicht unmittelbar sichtbar werden soll:

»What remains hidden is their fears: the fear of losing one’s social
position, the fear of not succeeding, the fear of an unpredictable,
insecure future and the fear that someone might discover that we are
not that competent after all« (3).

Die Scham des Betrachters beim Betrachten der knapp dreißig für die
Ausstellung »Study for a Museum Display« entstandenen Porträts ist
auch ihrer Unmittelbarkeit geschuldet, liegen ihrem Entstehungs-
prozess doch allesamt digital bearbeitete Collagen von Selbstbildnissen
der Künstlerin zugrunde, die nun ihrerseits im tradierten Medium der Öl-
malerei im Schonraum eines Salonsettings posieren.

Ein Salon, der gleichsam durch Steins filigrane skulpturale
Interventionen »Trap« und »Booby Trap« vermint ist – bedeutet
Letzteres doch nichts anderes als Sprengfalle. Und findet hier nicht
gleichsam ein Krieg statt, inmitten der rot und blau übermalten Wände,
entlang der von Stein selbst entworfenen Tapete einer abstrahierten
Explosion des Weiblichen? Ist es nicht eben jenes Weibliche, das uns
den kontemplativen Blick auf die Zurschaustellung von Porträts junger
Frauen verweigert? »Booby« verweist eben auch auf »Boobs« (Brüste)
und zu nichts anderem sind die Messingstäbe von »Booby Trap«
monumental zurecht gebogen.

Die lasziven Posen tradierter Malerei sind in Steins Gemälden nur noch
zu erahnen. Als Zitat führen sie eine Reduzierung darauf gleichsam ad
absurdum. Das Auge findet keine Ruhe; einer sinnlichen Erhöhung ver-
weigert sich jedwedes Porträt. Die Verletzlichkeit der Dargestellten wird
zur Verletzlichkeit des Betrachters in Anbetracht der Selbstentblößung
der Antlitze, die in ihren Übermalungen, Verzerrungen und
Aussparungen nicht selten an die zerfetzten Gesichter in Ernst
Friedrichs Buch »Krieg dem Kriege« (1924) erinnern.

Die meisten von Steins Porträts schauen den Betrachter an, sie
schauen zurück als wüssten sie um unsere eigenen vergeblichen
Bemühungen der Selbstinszenierung in digitalen Medien. Mit Sontags
Bemerkung zu Goyas »Los Desastres de la Guerra« ließe sich
argumentieren, dass Steins Bilder als Kunstwerke tatsächlich etwas
aufzeigen, was Kunstwerken zugrunde liegende Fotos oder Filme immer
nur zu repräsentieren behaupten können (4). Steins Porträts werden
damit anders als ihre unmittelbaren Vorlagen zu schonungslosen
Porträts Versehrter. Allein Gelassene in den intimsten Momenten ihrer
Wut, ihrer Angst, ihrem Zweifel, ihrer Verletzlichkeit, ihrer zum Scheitern
verurteilten Versuchen der Selbsterhöhung, ihrem erwachenden Wissen
um die eigene Vergänglichkeit.

Womit die Gemälde von Steins »Study for a Museum Display« wie ganz
nebenbei der figürlichen Malerei auch ihre Daseinsberechtigung wieder
zurückzuerstatten vermögen. Denn flüchtig wie Snapchat ist mitnichten
all das, was sich auf Leinwand gebannt präsentiert.

II

Stein selbst hat ihre Gemälde einmal als Armee bezeichnet, die keiner
Banner mehr bedarf. (5) Gemälde also, die sich befreit haben von
kunsthistorischen Koordinaten, auf die sie nur noch subtil rekurrieren,
derer es für die Rezeption nicht mehr notwendigerweise bedarf.

Die Giganten, auf deren Schultern man als Künstler steht und um die
eigene Daseinsberechtigung ringt, erlauben ihrer eingedenk kein
Hadern, keine andächtige Schockstarre Anerkennung ja, Bewunderung
nein. Es liegt etwas Reines und Immersives, etwas Demütiges in diesem
Ansatz, der sich nicht an den Ahnen misst aber in Wertschätzung
derselben Könnerschaft und Wissen in Verantwortung dem eigenen
Schaffen gegenüber als unabdingbar formuliert.

Schließlich sind es ebendiese Ahnen, die durch das eigene Tun in
einem fortwirken und dadurch jene Visibilität erhalten, ohne die sie
selber wirkungslos blieben. Etwa Goya, Bacon und Bourgeois. Oder die
multiplen Überschneidungen aus Picabias Gemäldefolge der
»Transparences«.

Aus zwei Köpfen von Steins »Triptych (Red)« ragen zudem die Ohren
von Picasso und Proust. Und das großformatige »Portrait (with Faun
Ears and Purple Haze)« weist nicht zufällig dieselben Masse auf wie
Gustave Moreaus »Tyrtée chantant pendant le combat« (1860), das
Gemälde des Symbolisten über den mit göttlichen Kräften ausgestatteten
Dichter. Es war Moreau, der Frankreich sein Pariser Atelier als Museum
hinterließ, in dem sich noch heute die Wirkungsmacht des Malers nach
dessen eigenem Willen voll entfalten kann.

Der ideale Ort für die Begegnung und Erfahrung von Steins Kunst ist
gleichfalls das Museum – als Heimat, als Zuhause und als Nest. Die
Vision der Künstlerin, die sich in »Study for a Museum Display« am
Rothko Room der Tate ebenso wie an der lichtdurchfluteten,
hochgotischen Palastkapelle Sainte-Chapelle orientiert, überlässt aller
widrigen Umstände zum Trotz auch hier nichts dem Zufall.

III

Als Malerin bedient Stein nur eine Facette ihres Wirkens. So wie sie
selber als nicht selten weltweit agierende Künstlerin geographisch kaum
zu verorten ist, so ist sie fernab aller Beliebigkeit in zahlreichen weiteren
Genres tätig, die ihren breiten Wirkungsbereich nie vollends
abzustecken vermögen: Skulptur, Performance, Architektur, Zeichnung,
Film- und Medienkunst, Fotografie, dazu ihre Tätigkeit als kuratorische
Arbeit sowie zahlreiche kollaborative Projekte.

Was sich in allen Arbeiten von Charlie Stein die Bahn bricht ist weniger
ein Kunstwollen denn die Unausweichlichkeit einer Ambition, die sich
ausschliesslich im Kunstkontext manifestieren will – auch und gerade
weil ihre Werke Fragen von Identität und Weiblichkeit verhandeln oder
oftmals aus soziologischen Überlegungen heraus konsum- und
gesellschaftskritisch sowie politisch motiviert sind.

Aufschlussreich hinsichtlich des Selbstverständnisses von Steins
Schaffen mag eine Beobachtung aus Prousts »Auf der Suche nach der
verlorenen Zeit« sein, die die Künstlerin im Rahmen einer Lesung zum
Abschluss ihrer Ausstellung in der Villa Merkel Ende November 2017 in
Esslingen auswählte:

»Was das innere Buch der unbekannten Zeichen betraf […] so bestand
diese Lektüre in einem Schöpfungsakt […] Wieviele wenden sich daher
denn auch vom Schreiben ab! Wie viele Verpflichtungen nimmt man
nicht auf sich, um gerade dieser einen zu entrinnen? Jedes Ereignis […]
hatte den Schriftstellern andere Entschuldigungen geliefert, um nur
jenes Buch nicht entziffern zu müssen […] sie hatten keine Zeit, an die
Literatur zu denken. Doch das waren nur Ausflüchte […] Das Gefühl
nämlich diktiert die Pflicht, der Verstand aber liefert die Vorwände, sich
ihr zu entziehen. Nur gelten in der Kunst keine Entschuldigungen,
Absichten zählen in ihr nicht; in jedem Augenblick muss der Künstler
auf sein Gefühl lauschen, daher aber nun ist die Kunst das Wirklichste,
was es gibt, die strengste Schule und das wahre jüngste Gericht« (6).

Steins Arbeiten sind Zeugnisse dieser Auffassung, sie stellen sich dem
Innersten und verleihen ihm Ausdruck wie Form.

Hier wird im Tiefsten Wissen geborgen und keine Information – einem
»Taucher mit seiner Sonde« (7) gleich, wie Proust schreibt. Hier löst
sich die Dichotomie von abstraktem Konzept und dessen figürlicher
Erlösung auf. Eingedenk des Vorwurfs eines rein um sich selbst
drehenden Narzissmus, der gleichwohl das eigene Scheitern
fortwährend antizipiert.

Nur dergestalt, nur in dieser Aufrichtigkeit ist Erkenntnisgewinn ebenso
für den Betrachter möglich. Man weiß um seine Wunde, man stellt sie
nur nicht mehr zur Schau. Es ist vielmehr das Schaffen, das sich sich
aus ihr speist.

 

(1) Susan Sontag, »The Photographs Are Us«, in: The New York Times
Magazine, May 23, 2004
(Section 6), 24 – 29, 42, 42.
(2) Isabelle Graw, in: Thomas Girst und Magnus Resch (Hg.), 100
Secrets of the Art World, S. 51.
(3) Ibid., S. 52.
(4) Susan Sontag, Regarding the Pain of Others,
New York: Penguin, 2003, S. 42.
(5) Charlie Stein im Gespräch mit dem Autor,
New York, 5.Mai 2017.
(6) Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. VII,
Frankfurt: Suhrkamp, 2011, S. 274 f.
(7) Ibid S.273

 

Katalog zur Ausstellung